Vergiss nie, hier arbeitet ein Mensch

Ich unterrichte
dein Kind.

Und du lauerst mir auf
dem Parkplatz auf?

Lehrerin
Vergiss nie, hier arbeitet ein Mensch

Angelika, Sonderschullehrerin an einer Integrativen Schule, Berlin

„Nutte“, „Fotze“, „Bitch“ oder „Ich fick´ Dich, Du Hure“, so wird die Sonderschullehrerin Angelika von ihren Schüler*innen inzwischen täglich beschimpft. Zu den Schimpftiraden der Jugendlichen gesellen sich regelmäßig Drohungen. Ausgesprochen werden sie auch von den Eltern ihrer Schüler*innen

„Wenn ich mir vorstelle, dass ich mich noch bis 67 auf diese Weise beleidigen lassen soll, wird mir ganz anders“, sagt die Berliner Lehrerin und pustet eine weißblonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihren Namen hat die 57-jährige Lehrerin deshalb schon lange von ihrem Klingelschild entfernt. Sie will unangenehme oder gar gefährliche Begegnungen vor der eigenen Haustür vermeiden. Dennoch sei ihr schon häufig ein wütendes „Ich weiß, wo du wohnst“ entgegengeschleudert worden.

Trotz allem liebt Angelika ihren Beruf. Er ist ihr über die Jahre zur Berufung geworden. Ihr Ziel: Sie möchte Kinder und Jugendliche resilienter machen – nicht, indem sie ihnen etwaige Steine aus dem Weg räumt, sondern vielmehr indem sie die jungen Menschen befähigt, das selbst zu tun.

Gewürgt und niedergeschlagen

Doch die Arbeit habe sich verändert. „Die verbale Gewalt an den Schulen ist in den letzten fünf Jahren immer krasser geworden“, berichtet die Pädagogin. Und nicht immer bleibt es dabei.

Vor zwei Jahren schlägt einer ihrer Schüler Angelika während des Unterrichts im Klassenraum zusammen, vor den Augen der gesamten Klasse. „Das war das schlimmste Gewalterlebnis in meiner Karriere“, sagt die Sonderschullehrerin. Denn bevor die Faust des Schülers fliegt und Angelika nach einem Schlag ins Gesicht rückwärts zu Boden stürzt, würgt der Junge im Teenager-Alter sie.

Auslöser für diese rohe Gewalt: eine körperliche Auseinandersetzung zwischen zwei Schülern, die Angelika mit Worten stoppen will. 

Ihren Unterricht an diesem Tag bricht sie ab. „Direkt nach dem Angriff war ich völlig perplex und am Boden zerstört“, sagt Angelika über ihre unmittelbare Reaktion. „In diesem Moment ist mein gesamtes Berufsbild zusammengebrochen.“ Sie habe nicht nur das Vertrauen in ihre Schüler*innen verloren, sondern trete Menschen seitdem generell misstrauischer entgegen. 

Allein gelassen 

Denn Unterstützung erfährt Angelika nach diesem Vorfall von offizieller Seite kaum. Ihre Schulleitung habe sie aufgefordert den Unterricht unverzüglich fortzusetzen. „Aber ich konnte nach dem Angriff wirklich nicht mehr vor der Klasse stehen“, erzählt die Sonderschullehrerin. Stattdessen sucht sie wie vorgeschrieben den Durchgangsarzt auf. Doch auch hier stößt sie auf Unverständnis. „Das hat mich dann endgültig umgehauen“, sagt die sonst so resolute Lehrerin. 

Sie wendet sich an ihren Hausarzt, der sie aufgrund des Angriffs zunächst drei Wochen krankschreibt. Eine mehrwöchige Reha folgt. Weitergehende psychologische Hilfe muss Angelika sich nach der Kur allerdings selbst organisieren. Denn die Schulbehörde stempelt ihren Unfallbericht nicht ab und so besteht für die Sonderschullehrerin offiziell kein Anspruch auf psychologische Betreuung. 

Zurück in Berlin soll Angelika ihre Klasse wieder unterrichten. Auch der Schüler, der sie würgte, sitzt im Klassenzimmer. „Das kann ich nicht“, ist Angelikas erste Reaktion. Und dabei bleibt sie.

Die Sonderschullehrerin wendet sich zuerst an den schulpsychologischen Dienst und dann an unabhängige Interventionsstellen, sie sucht sich Verbündete. Ein halbes Jahr macht Angelika massiven Druck. Dann endlich kann sie als Lehrkraft an eine andere Schule in Berlin wechseln und muss den Teenager, der sie angriff, nicht mehr unterrichten. „Das alles zu organisieren war ein irrer Kraftaufwand“, sagt Angelika rückblickend. 

Ein Hilfsnetzwerk fehlt

Natürlich hat sie auch ernsthaft darüber nachgedacht, ihren Beruf zu verlassen. Doch von einem einzelnen Schüler wollte sie sich die Freude an der Arbeit mit Menschen nicht verderben lassen. „Dafür liebe ich meinen Beruf zu sehr.“ 

Dass sie nach dem tätlichen Übergriff so wenig Unterstützung erfuhr, führt Angelika auf eine fehlende offizielle Infrastruktur, ein fehlendes Hilfsnetzwerk, zurück. „Ich fühlte mich total alleine und verloren“, sagt die Lehrerin über die Tage und Monate nach dem Angriff. Gewalt gegen Lehrkräfte und der entsprechende Umgang damit, das sei ein vernachlässigtes Thema in unserer Gesellschaft, ist sich die Sonderschullehrerin sicher. 

Strukturen schaffen

Damit sich das ändert, wünscht Angelika sich ein spezielles Krisen-Interventionsteam, an das sich Lehrkräfte wenden können, die während des Dienstes Opfer von Gewalt geworden sind. Auch Schulleitungen müssten dieses externe Interventionsteam anfordern können, so Angelikas Vorstellung. 

Diese Krisen-Teams sollen dann nicht nur die psychologische Betreuung der Lehrer*innen gewährleisten, sondern auch eine entsprechende Begutachtung organisieren, bevor die Pädagog*innen wieder mit dem Unterricht beginnen. „Denn einen Schüler, der mich beispielsweise angegriffen hat, kann ich nur dann pädagogisch wieder gut betreuen“, sagt Angelika, „wenn ich diese negativen Erfahrungen zuvor verarbeiten konnte.“ 

Insgesamt wünscht sich die Sonderschullehrerin, dass die Arbeitgeber stärker für die psychische Gesundheit ihrer Arbeitnehmer*innen in besonderen Belastungssituationen Sorge tragen.

Denn die Arbeitsbelastung sei auch so schon hoch genug: Eklatanter Personalmangel und steigender administrativer Aufwand träfen auf eine sinkende Sozial-Kompetenz der Schüler*innen. 

Gewalt-Opfern ein Gesicht geben

Mit ihrer Teilnahme an der Initiative „Vergiss nie, hier arbeitet ein Mensch“ will Angelika für mehr Sichtbarkeit in der Gesellschaft sorgen. „Wir müssen offen über Gewalt gegenüber Amtsträger*innen sprechen“, sagt die Lehrerin.  

In ihrer neuen Schule hat Angelika das Kampagnen-Plakat mit ihrem Foto außen an ihren Spind gehängt. Seitdem suchen viele ihrer Kolleg*innen aktiv das Gespräch mit ihr. Von Mut ist dann die Rede, aber vor allem auch von ähnlichen Erfahrungen, die viele ihrer Kolleg*innen im Schuldienst gemacht haben. „So eine Offenheit habe ich vorher noch nie erlebt“, sagt die Lehrerin. Persönlich zu hören, wie verbreitet verbale und auch physische Gewalt gegenüber Lehrkräften tatsächlich ist, habe sie rückwirkend nochmals in ihrer Entscheidung bestärkt, ihre Erfahrung öffentlich zu machen. 

Porträts
Betroffene berichten

Wer heute im öffentlichen und privatisierten Sektor arbeitet, der braucht ein dickes Fell! In kurzen Reportagen berichten Beschäftigte aus den verschiedenen Bereichen des öffentlichen Dienstes.

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