Schichtwechsel in der Uniklinik – ein ganz normaler Abend im Jahr 2014. Anusch bespricht mit der Spätdienstschwester und einer Praktikantin im Aufenthaltsraum die Übergabe für ihre Station. Seit fast 20 Jahren sorgt die damals knapp 40-jährige Krankenschwester hier in der Herz- Thoraxchirurgie für das Wohl der Patient*innen. Ob Waschen, Betten machen, Verbandswechsel oder Verabreichen von Medikamenten… es gibt immer etwas zu tun. Sie ist Krankenschwester mit Leib und Seele. Den Patient*innen soll es gut gehen auf „ihrer“ Station. Spät- oder Nachtdienste stören die resolute Frau nicht. Bis dieser verhängnisvolle Abend alles für sie verändert.
Während der Schichtübergabe kommt ein Patient in den Aufenthaltsraum. Der Mann sagt etwas Seltsames: „Sie hatten wohl nicht gedacht, mich heute noch mal wiederzusehen.“ Anusch wundert sich, doch Zeit zum Nachdenken bleibt ihr nicht.
„Plötzlich sah ich an seiner Seite etwas Silbernes aufblitzen.“ Sie handelt instinktiv. Reißt ihre Kollegin vom Stuhl, stellt sich schützend vor sie. Der Mann geht auf sie los – wie sich später herausstellt, mit einer Schere. Er ist so fokussiert auf Anusch, dass ihre Kolleginnen aus dem Raum fliehen können.
Doch das weiß die Krankenschwester nicht mehr. „Ich hatte einen Blackout, habe nichts wahrgenommen. Ich dachte nur: Er ist ganz nah. Ich kann ihn atmen hören.“ Irgendwann kommt sie zu sich, blickt sich um. Und ist allein mit dem Mann im Zimmer. Er stürzt sich wieder auf sie. „Ich war noch nicht tot“, berichtet sie tonlos. Der Tumult mobilisiert zum Glück Helfer*innen. Ein anderer Patient stürmt ins Zimmer, stellt sich schützend zwischen den Angreifer und die Schwester. Der Täter lässt von ihr ab.
Erst Panik, dann Begreifen
Anusch steht unter Schock. „Ich habe nichts gefühlt. Ich wusste nicht, was mir passiert ist.“ Sie läuft aus dem Zimmer, will Hilfe holen, sucht ihre Kolleginnen. Andere Mitarbeiter*innen eilen zu Hilfe. Der Angreifer kann überwältigt werden.
Die Krankenschwester irrt über die Station, bis ein Kollege sie aufhält: „Setz dich, du blutest.“ Da erst realisiert sie, dass sie verletzt ist. Vier Stichverletzungen und einen tiefen Riss quer über den Bauch trägt sie davon.
„Er hat versucht, mich aufzuschlitzen.“ Während ihre Wunden versorgt werden, passiert Unfassbares: Der Angreifer legt sich freiwillig in sein Bett und behauptet, nichts getan zu haben. Bis die Polizei am Tatort auftaucht, ist alles wieder ruhig. Im Nachhinein erklärt der Mann, er habe alles geplant. Zwei Tage wird er in der Psychiatrie behandelt, dann entlassen. Anklage wurde nie erhoben.
„Alles brach zusammen.“
Für Anusch ist das nur ein Rückschlag von vielen. Ihr Leben verändert sich nach dem Angriff drastisch, Stück für Stück fällt alles auseinander.
„Ich brach zusammen, hatte nackte Angst, rauszugehen“, beschreibt sie das Gefühl. Zwei Wochen ist sie krankgeschrieben. „Doch ich wollte zurück zur Arbeit. Aber sobald es dunkel wurde, kam die Panik.“
Spät- und Nachtschichten schafft sie so nicht, wird wieder krankgeschrieben. Anusch beginnt eine stationäre Traumatherapie. Ihre direkten Kolleg*innen oder Vorgesetzten besuchen sie nicht im Krankenhaus. Sie muss sich verteidigen: Wann sie denn wieder zur Arbeit käme, sie wäre doch jetzt lange genug zu Hause gewesen.
Es kommt noch schlimmer: Die Unfallkasse erkennt den Betriebsunfall nicht an. Ein Gutachter wird auf Anusch angesetzt. „Der kam zu dem Schluss, die Traumatherapie wäre schon zu viel, die bräuchte ich nicht.“ Kranken- und Unfallkasse beginnen über die Kosten zu streiten. Anusch muss zwei Monate ohne Gehalt auskommen. „Ich lieh mir Geld von Freunden, fühlte mich verloren.“ Sie weiß nicht, an wen sie sich wenden soll. „Ich hätte eine Anlaufstelle gebraucht, die sich mit derartigen Fällen auskennt, die die Opfer auffängt. Und die insbesondere schnell psychologische Hilfe vermitteln kann.“
Langer Weg zur Hilfe
Währenddessen erkennt die Führungsebene der Uniklinik: Sie muss handeln, damit sich der dramatische Angriff nicht wiederholen kann.
Personalrat und Klinikvorstand gründen einen Präventionsrat, ein Wachdienst in der Zentralen Notaufnahme wird eingerichtet. Zusätzlich bildet die Klinik zwei Deeskalationstrainer aus, die die Teams der Zentralen Notaufnahme und der Akutpsychiatrie schulen.
Hier lauern die größten Risiken für Aggression und Übergriffe.
Doch diese Bemühungen gehen vorerst an Anusch vorbei. Auf persönlicher Ebene erfährt sie kaum Hilfe. Sie will wieder arbeiten, doch sie braucht einen Job ohne Abend- oder Nachtschichten. Aber das scheint unmöglich, die Klinik hat keine geeigneten Stellen frei. Sie fühlt sich allein gelassen. Die Krankenschwester braucht lange, um sich zu überwinden und um Hilfe zu bitten. Viel zu spät wird der Personalrat der Klinik so auf das Problem aufmerksam. Durch sein Drängen gelingt es schließlich rund 1,5 Jahre nach dem Vorfall, Anusch eine neue Stelle ohne Schichtarbeit zu verschaffen. Seit einiger Zeit arbeitet sie nun tagsüber in der Gastroenterologischen Ambulanz, der Magen-Darm-Abteilung.
„Wir müssen aktiv auf die Betroffenen zugehen.“
Personalrats-Vorsitzender Markus Schulze hat seine Lehren daraus gezogen: „Personal- und Betriebsräte aber auch die direkte Führungsebene haben ganz klare Verantwortung und müssen aktiv auf die Kollegen zugehen. Wir dürfen die Opfer nicht allein lassen, auch wenn gerade keine Lösung in Sicht ist.“ Seit dem Übergriff kämpft er für ein Interventionsteam: eine Anlaufstelle, wie sie Anusch gebraucht hätte. „Wir müssen besser vorbereitet sein und endlich effektiv mit den Kranken- und Unfallkassen kooperieren, um mit solchen Vorfällen umgehen und dauerhafte psychologische Betreuung vermitteln zu können“, fordert der Personalrat. Doch sein Wunsch scheitert bis heute an Bürokratie und Abrechnungsproblemen.
Anusch kann nur hoffen, dass die Bemühungen irgendwann Wirkung zeigen, auch wenn es ihr nichts mehr nützt. Sie selbst versucht täglich aufs Neue und mithilfe der Therapie, ihr Trauma zu bewältigen.
Menschenmengen verkraftet die Krankenschwester kaum. Geschlossene Räume und fremde Männer verstärken ihre Panik. Elternversammlungen an der Schule ihres Sohnes kann Anusch nur wahrnehmen, wenn sie jeden Vater persönlich kennt. Kino und Theater sind seit 2014 für die einst so aufgeschlossene Frau tabu. Trotz allem hat sie ihre Berufswahl nie bereut. Der Job als Krankenschwester erfüllt sie und bietet das, was Anusch sich am meisten von ihrer Arbeit wünscht: Anderen helfen zu können.
Text und Redaktion: Ines Hammer
Porträts
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Wer heute im öffentlichen und privatisierten Sektor arbeitet, der braucht ein dickes Fell! In kurzen Reportagen berichten Beschäftigte aus den verschiedenen Bereichen des öffentlichen Dienstes.