Vergiss nie, hier arbeitet ein Mensch

Martin*, Gesundheits- und Krankenpfleger in einer Rettungsstelle in Berlin

Seit 2010 leidet Martin unter Schmerzen, Belastungseinschränkungen und Infekten. Und unter Angstzuständen. Der Grund sind zwei Messerstiche, einer davon in die Lunge. Der Angriff während seiner Schicht als Gesundheits- und Krankenpfleger in einem Klinikum in Berlin veränderte das Leben des mittlerweile 60-Jährigen. 

Martin kämpft seitdem um Gerechtigkeit. Denn die psychischen Folgen, mit denen der Berliner seit dem Übergriff ringt, werden noch immer nicht von seiner Berufsgenossenschaft anerkannt.

Er ist seit 1997 in der Rettungsstelle mitten im Kreuzberger Kiez tätig. Im Jahr 2000 erlebte er die erste körperliche Erfahrung mit Gewalt – für ihn mit bleibenden gesundheitlichen Schäden verbunden.

„Ein Kollege wurde von einem Patienten mit einem Messer angegriffen und verletzt. Ich hörte nur seine Schreie und eilte ihm zu Hilfe“, erinnert sich der Pfleger.

Der Angreifer war körperlich überlegen und im psychiatrischen Ausnahmezustand. Martin gelang es, den Patienten niederzuringen. „Dabei verletzte ich mein Knie massiv. Ich musste operiert werden, behielt aber einen Meniskusschaden zurück, der wegen imaginärer Vorschäden von der Berufsgenossenschaft nicht anerkannt wurde.“ Dass Martins Kollege den Angriff überlebte, war wohl nicht zuletzt dem beherzten Eingreifen des Berliners zu verdanken. 

„Gewalt gegen Pflegende habe ich schon immer erlebt“, so Martin. Aber zwei Dinge hätten sich über die Jahre verändert: Personalschlüssel und Gewaltpotenzial.

„Als ich damals anfing, waren wir 64 Leute in der Pflege. Jetzt sind wir nicht einmal mehr die Hälfte – bei gleichbleibender Patientenanzahl.“ So können die geplanten Schichten in den seltensten Fällen eingehalten werden. Seine Familie wisse nie genau, wann er nach Hause komme. Auch das Aggressionspotenzial sei gestiegen: „Wenn ich einen Patienten ausziehe, fällt schon mal ein Messer, ein Totschläger oder auch eine Pistole aus der Tasche. Das ist mittlerweile leider Standard.“

Messerstich mit schweren Folgen

2010 kommt es zum zweiten großen Zwischenfall. In jener Nacht eskaliert der Berliner Verkehr unter Blitzeis, in der Rettungsstelle drängen sich Menschen mit Knochenbrüchen. Doch einem leicht betrunkenen Mann scheint die Wartezeit trotz der Ausnahmesituation offensichtlich zu lang, er beginnt zu randalieren, wirft mit Gegenständen um sich. Martin teilt dem Mann mit, wenn er das nicht lasse, müsse er die Polizei rufen.

„Da schlug er nach mir. Ich wollte ausweichen, doch er ging erneut auf mich los. Ich drückte ihn auf eine Trage und da spürte ich auch schon die Messerstiche.“ Ein Stich geht in Martins Oberarm, der andere in die Lunge. Drei Tage liegt der Berliner auf der Intensivstation.

Der Stich in die Lunge heilt nicht folgenlos aus. „Seitdem nehme ich täglich Schmerzmedikamente, leide unter Belastungseinschränkungen und ständigen Infektionen.“

Kampf gegen Windmühlen

Doch diese Folgen werden erst 2018 anerkannt – nachdem Martin vor Gericht zieht und das Landessozialgericht zu seinen Gunsten entscheidet. „Die Berufsgenossenschaften behaupten immer erst einmal, der Schaden war schon vorher da. Die Kostenübernahme wird standardmäßig abgelehnt“, runzelt der Pfleger wütend die Stirn. „Du stehst alleine da, denn wer kann sich schon eine Behandlung aus eigener Tasche leisten oder verfügt über die Mittel, um vor Gericht zu gehen?“ Sein Arbeitgeber hält sich heraus. Das Klinikum gab ihm zwar das Wort, ihn bis zur ersten Instanz bei den Anwaltskosten zu unterstützen; als Martin dann aber tatsächlich gegen die Unfallkasse vor Gericht geht, kann sich niemand mehr an das Versprechen erinnern.

Nie endende Hilflosigkeit

Die psychischen Folgen des Angriffs verfolgen ihn noch immer. Er leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung.

„Immer wieder kommt die Angst, wenn aggressive oder gewalttätige Patienten die Rettungsstelle betreten. Das löst alles neu in mir aus.“ 

Aber auch diese Krankheit will die Unfallkasse Berlin nicht anerkennen. Was es extrem schwierig mache, eine adäquate Behandlung zu erhalten. Martin geht wieder vor Gericht, kämpft noch immer gegen die Berufsgenossenschaft. Doch die Sozialgerichte sind völlig überlastet. Sein Anwalt rechnet damit, dass sich das Verfahren mindestens drei Jahre hinziehe. „Und mit jedem Schreiben von Anwalt oder Gericht wird der Angriff in meinem Kopf wieder neu aufgerollt.“ 

Der Berliner wünscht sich mehr Anerkennung für seinen Berufsstand und insbesondere Unterstützung für Betroffene: „Eine übergeordnete Stelle, die sich mit Gewalt gegen Pflegende beschäftigt, könnte den Kolleginnen und Kollegen schneller helfen.“ 

Bei vielen Beschäftigten hänge die wirtschaftliche Existenz von einer adäquaten und schnellen Behandlung ab. „Wenn die Genossenschaft nicht übernimmt, können die Pflegenden ihren Beruf nicht mehr ausüben oder müssen den Job wechseln und mit finanziellen Einbußen leben.“ Von der Politik fordert Martin, dass endlich der Notstand beim Pflege- und medizinischen Personal behoben wird.

„Wir sind am Limit. Die Beschäftigten müssen endlich gut und sicher arbeiten und zufrieden nach Hause gehen können.“ 

Auch die Bevölkerung müsse anerkennen, dass die Pfleger*innen den Menschen helfen und keine Zielscheibe für ihre Aggressionen sind. Der Berliner erhofft sich nichts mehr, als dass für alle Betroffenen die eigentlichen Schäden durch die erfahrene Gewalt anerkannt würden. „Ich erlebe, dass wir – die Pflegerinnen und Pfleger – Menschen zweiter Klasse sind. Für Öffentlichkeit, für Politik und auch für Arbeitgeber und Genossenschaften. Das muss sich endlich ändern!“

* Name auf Wunsch von der Redaktion geändert 

Text und Redaktion: Ines Hammer

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Wer heute im öffentlichen und privatisierten Sektor arbeitet, der braucht ein dickes Fell! In kurzen Reportagen berichten Beschäftigte aus den verschiedenen Bereichen des öffentlichen Dienstes.

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