Moritz, Notfallsanitäter in Berlin
Sein Einsatzgebiet ist Kreuzberg. Ein Berliner Multi-Kulti-Stadtteil mit vielen jungen Einwohner*innen, internationalen Tourist*innen und Partyvolk. Oft ist Notfallsanitäter Moritz mit Drogen- und Alkoholmissbrauch, Gewaltverbrechen und psychiatrischen Notlagen konfrontiert. Das ist Alltag, er kann das alles händeln.
„Doch in den letzten Jahren ist die Gewalt gegen uns stark gestiegen“, sagt der 32-Jährige. „Arsch“, „Rassist“ und „Hurensohn“, Beschimpfungen wie diese hört der Notfallsanitäter im Dienst inzwischen täglich. Und auch tätliche Angriffe sind keine Seltenheit mehr.
Trotz allem liebt der gebürtige Berliner seinen Beruf. Zehn Jahre ist er dabei. Für den Rettungsdienst ist das eine lange Zeit. Nach seiner Ausbildung zum Rettungsassistenten, die er 2012 begonnen hat, absolvierte Moritz auch gleich die mehrwöchige Weiterbildung zum Notfallsanitäter. Denn auf der Feuerwache Kreuzberg hat er sein zweites Zuhause gefunden. „Unser Wachzusammenhalt ist einfach sensationell“, sagt Moritz, der bei der Johanniter Unfallhilfe für die Berliner Feuerwehr angestellt ist. Neben den spannenden und abwechslungsreichen Aufgaben ist es vor allem diese Solidarität unter den Kolleg*innen, die ihn noch im Job hält.
Die Übergriffe mehren sich
Drei Mal ist Moritz in den vergangenen drei Jahren nach tätlichen Übergriffen im Dienst selbst ins Krankenhaus eingeliefert worden. Drei Mal war er für mehrere Wochen dienstunfähig. Insgesamt hat der überzeugte Retter noch mehr körperliche Angriffe erlebt. Doch die kurzen Abstände zwischen den folgenschweren Attacken seien neu.
„Es kann ja echt nicht sein, dass ich einmal im Jahr selbst im Krankenhaus lande, weil ich Menschen in Not helfe.“
Von Baseballschlägern und gebrochenen Knochen
Den für ihn folgenreichsten Übergriff erlebt Moritz vor einigen Jahren beim „Zug der Liebe“, einer Demonstration für mehr Mitgefühl, Nächstenliebe und soziales Engagement – ausgerechnet. Einem Patienten unter Drogeneinfluss scheint Moritz´ Bein im Weg zu sein. Also tritt er zu. So kräftig, dass beide Männer aus dem Rettungswagen fallen. Moritz hört einen lauten Knack, sein vorderes Kreuzband und sein Schienbeinkopf sind gerissen. Auch der Muskel ist geschädigt. Eine Operation und mehrere Tage Krankenhausaufenthalt folgen. Sechs Wochen ist der Berliner insgesamt arbeitsunfähig und noch heute schmerzt ihn sein Knie bei Wetterwechsel.
Ein Jahr danach folgt eine weitere brenzlige Situation im Dienst. Sie beschert Moritz eine gebrochene Rippe und eine wochenlange Zwangspause: Als ein Mann sie mit einem Baseballschläger attackiert, stellt sich der kräftigere und erfahrenere Moritz vor seinen jüngeren Kollegen. „In diesem Moment war ich einfach nur unfassbar sauer, dass wir uns verteidigen müssen“, erzählt der Notfallsanitäter. Später kommt er ins Grübeln. Kann er seinen Beruf in dieser Form noch bis zur Rente ausüben? „Solche Übergriffe bedrücken uns alle“, sagt er. Der Kollege, mit dem Moritz an jenem Tag im Dienst war, ist inzwischen nicht mehr im Rettungsdienst tätig.
Respekt vor der Uniform schwindet
Ähnliche Konsequenzen ziehen viele Beschäftigte, sie verlassen den Rettungsdienst nach einigen Jahren wieder. Denn die psychischen und physischen Belastungen sind hoch. „Wir werden bedroht, bespuckt, geschubst und bedrängt“, beschreibt Moritz seinen Arbeitsalltag. Besonders bei Großveranstaltungen sei die Stimmung gegenüber den Einsatzkräften häufig aggressiv.
„Manchmal würde ich das Tragen der Uniform dann am liebsten vermeiden“, sagt der Notfallsanitäter und erinnert sich an eine große Messerstecherei mit Todesfolge. Als er mit seinem Kollegen helfen will, werden sie von der Menge beschimpft. In solchen Situationen steigt auch für den sonst recht gelassenen Moritz das Stresslevel erheblich an. Die Behandlungszeit für die zu versorgenden Patient*innen verlängert sich, wenn er sich gleichzeitig um seinen Eigenschutz sorgen muss. Moritz, der sich in seiner Freizeit mit Sport fit hält, erklärt:
„Ich habe ständig das Gefühl mich rundum absichern zu müssen.“
Mehr Einsätze – zu wenig Personal
Und die Einsätze werden nicht nur stressiger, es werden auch immer mehr. „Fast jeden Tag wird der ,Ausnahmezustand Rettungsdienst‘ ausgerufen“, berichtet Moritz. Dann müssen zusätzliche Rettungswagen aktiviert werden, Pausenregelungen gelten nicht mehr und der Überstundenberg wächst. „Wir arbeiten im Akkord.“ Moritz zuckt mit den Schultern. Nicht selten fahre er zwölf Einsätze in seiner Zwölf-Stunden-Schicht. Bis zu 70 Prozent ihrer Einsätze, so schätzt er, sind Fahrten zu Personen, die sich nicht in einer akuten Notlage befinden. Viele Menschen rufen die 112 schon bei einer leichten Erkältung oder einem eingerissenen Fingernagel an. Häufig fehle es Betroffenen an Verständnis dafür, welche Folgen ihr Verhalten hat. „Während ich zu jemandem unterwegs bin, der sich in den Finger geschnitten hat, kann ich keinen Herzinfarkt behandeln“, sagt Moritz.
Und während die Einsatzzahlen im Rettungsdienst steigen, fehlt gleichzeitig Personal. Diesem Job muss man gewachsen sein, auch Nachwuchs ist schwer zu finden. Moritz hat schon viele Praktikant*innen auf seinem Rettungswagen mitgenommen. Nur wenige haben sich danach für eine Ausbildung im Rettungsdienst entschieden. „Wer lässt sich schon gerne jeden Tag anpöbeln?“, fragt Moritz.
Belastung verarbeiten
Auch er nimmt so manchen Vorfall mit nach Hause. „Manchmal bin ich nach dem Dienst noch sehr empört über die Respektlosigkeit, die mir im Dienst entgegenschlägt“, sagt er. Rückhalt findet er dann in Gesprächen mit seiner Frau und seinen Freunden, im Austausch mit seinen Kolleg*innen. Denn so unterschiedlich Menschen Stress und Belastungen verarbeiten, die Retter können sich aufeinander verlassen.
„Meine Kolleg*innen fangen extrem viel auf“, sagt Moritz. „Wir kennen uns gut, einige Kolleg*innen reden nach schweren Einsätzen darüber, andere müssen das Ganze mit Humor verarbeiten und wieder andere ziehen sich eine Weile zurück.“
Für Situationen, „die sich in den Kopf einbrennen“, zum Beispiel nach Großschadenslagen wie der Messerstecherei, gibt es auch eine gezielte Einsatznachbereitung. Hier analysieren die Einsatzkräfte nicht nur die technischen Abläufe, sondern sprechen im Optimalfall auch über mögliche psychische Folgen. Was sind klassische Stresssymptome und wie begegnet man ihnen, welche Hilfsangebote gibt es? Gerade an dieser Nachbereitung hapere es oft, meint Moritz. Zwar gäbe es bei der Johanniter Unfallhilfe auch eine Einsatzseelsorge, dort müssen die Einsatzkräfte allerdings aktiv nach offizieller Unterstützung fragen. „Das ist für einige eine Hürde“, sagt Moritz.
Entlastung schaffen
Mehr Respekt – das ist Moritz‘ größter Wunsch an die Gesellschaft allgemein und an die Menschen, denen er bei seinen Einsätzen immer wieder begegnet. „Besonders in Menschenmengen würde uns eine Art Rettungsgasse helfen“, sagt der Notfallsanitäter, „ganz ähnlich wie im Straßenverkehr.“
Gleichzeitig glaubt er nicht, dass sein Wunsch schnell in Erfüllung geht. Deeskalationstrainings und Selbstverteidigungskurse sollten deshalb künftig grundsätzlich zur Ausbildung gehören, findet Moritz. Damit sich seine Kolleg*innen und er besser vor Übergriffen im Dienst schützen können. „Solche Fähigkeiten können dann immer wieder in Weiterbildungen aufgefrischt werden.“ Auch stichsichere Westen und Body-Cams für die Rettungskräfte könnten zu mehr Sicherheit beitragen.
Den Rettungsdienst zu verlassen ist für den 32-Jährigen übrigens keine Option. Lieber will er mit seiner Teilnahme an der Initiative „Vergiss nie, hier arbeitet ein Mensch“ dazu beitragen, die Belastungen der Beschäftigten im Rettungsdienst öffentlich bekannt zu machen. Denn nur durch die Aufklärung der Bevölkerung, davon ist der engagierte Notfallsanitäter überzeugt, können sinkende Einsatzzahlen und ein respektvoller Umgang miteinander erreicht werden. Und genau das ist das Ziel von Moritz.
Porträts
Betroffene berichten
Wer heute im öffentlichen und privatisierten Sektor arbeitet, der braucht ein dickes Fell! In kurzen Reportagen berichten Beschäftigte aus den verschiedenen Bereichen des öffentlichen Dienstes.